Die Lippstädter Grünen erinnern daran, dass Im Jahr 2021 Jüdinnen und Juden nachweislich seit 1700 Jahren auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands leben: Ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin vom 11. Dezember 321 erlaubte die Berufung von Juden in Ämter der Stadtverwaltung. Es gilt als ältester Beleg jüdischen Lebens in Europa nördlich der Alpen.
Die Grünen wünschen gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen ein Festjahr, kein Jubiläum. Denn zum Jubeln sind die 1700 Jahre jüdischer Geschichte in dem Gebiet, das heute Deutschland heißt, ihrer Ansicht nach nicht, denn es ist eine Geschichte mit tiefen Brüchen und Zäsuren.
Die erste jüdische Ansiedlung in Lippstadt und der Umgebung erfolgte deutlich später. So ist für unsere Stadt jüdisches Leben vor 1350 nur vage belegt, dem Jahr der Pest und der großen Verfolgung, in dem die jüdischen Gemeinden in Westfalen wie im ganzen Reich größtenteils vernichtet wurden. „Erinnern möchten wir an den Gelehrten David Gans, der 1541 in Lippstadt geboren wurde , an die Lippstädter Schutzjuden, die gegen Bezahlung von Abgaben die Zusicherung erhielten, hier ohne Repressalien leben zu können, an ihre Gleichstellung als preußische Staatsbürger 1869, an den Höchststand der jüdischen Bevölkerung in Lippstadt mit 3,1 % und 240 Menschen im Jahre 1871, an den Bau der Synagoge in der Mitte des 19. Jhdt., an Sally Windmüller, den Gründer der Hella, die 1895 in der Hospitalstraße ihre Arbeit aufnahm und an die Auslöschung jüdischen Lebens in Lippstadt durch Vertreibung, Deportation und Ermordung im NS-Staat“, gibt Schulausschuss-Vorsitzender Holger Künemund einen geschichtlichen Abriss und ergänzt, dass darüber hinaus die Werke jüdischer Künstler*innen u.a. aus Literatur, Kunst und Musik ein wesentlicher Bestandteil deutscher und europäischer Kulturgeschichte sind.
Die Vermittlung und die positive Hervorhebung von vielfältigem jüdischem Leben heute sowie der 1700-jährigen jüdischen Geschichte und Kultur auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands soll im Zentrum dieses Festjahres stehen. Zugleich gilt es, dem wiederauflebenden Antisemitismus in Europa entgegenzuwirken. Den Kölner Initiatoren*innen des Festjahres ist es ein Anliegen lebendige jüdische Kultur zu zeigen, jüdisches Leben sichtbarer zu machen und interessierten die Möglichkeit zu geben, Jüdinnen und Juden besser kennenzulernen, so wie man einen Nachbarn kennenlernt. Leider nur „wie“ Nachbarn, denn die wenigsten haben jüdische Nachbarn*innen. Dazu gibt es viel zu wenig Jüdinnen und Juden – und das hat Gründe.
„Ich kann den Wunsch, lebendige jüdische Kultur zu zeigen, gut verstehen. Weil das Judentum eine lebendige Kultur und Religion ist. Weil die Geschichte der Shoa und des Antisemitismus den Blick auf jüdische Religion und jüdische Menschen prägt. Weil viele über Antisemitismus etwas wissen und wenig über jüdische Religion. Sie sitzen dem Irrtum auf, im Judentum müsse alles todtraurig zugehen. Zudem begegnet man in Deutschland lebendigen Juden wie Angehörigen einer eigentlich ausgestorbenen Spezies“, schreibt der jüdische Journalist Gerald Beyrodt.
Häufig ist heute in wohlklingenden Reden von europäischen Werten die Rede. Man sei doch weltoffen und tolerant, denken wir Deutsche von uns – bis auf zwölf nicht ganz so glückliche Jahre. Die Konsequenz ist eine große Selbsttäuschung. Dabei erreicht die Anzahl antisemitischer Straftaten in Deutschland im vergangenen Jahr mit über 2.000 Delikten den höchsten Wert seit zwanzig Jahren, der Anstieg gegenüber dem Vorjahr beträgt rund 13 Prozent. „Aus dem Nichts kommt diese Hasskriminalität nicht. Die permanente Unterschätzung des Antisemitismus – sie gehört zum Alltag in Deutschland. Es gibt eine Verbindung von den mittelalterlichen Verschwörungsmythen wie Hostienfrevel und Brunnenvergiftung zu den Mythen, die den Attentäter von Halle antrieben. Die Verbindung lautet: „An allem sind die Juden schuld“, so der Grüne Heinz Gesterkamp.
Doch Nichtjuden wollen selten einsehen, dass nur Juden wirklich wissen, wie sich das Leben als Jude in Deutschland anfühlt. „Sie hören die antijüdischen Äußerungen in unserem Alltag, sie erleben die zunächst schleichende, inzwischen galoppierende Verschärfung der Lage hautnah. Auf der Straße, aber auch im privaten Umfeld und im Beruf. Überall. Schamlosigkeit hat sich breitgemacht und nicht nur bei Rechtsextremen und Neonazis“, ergänzen die Grünen. In Lippstadt leben vielleicht ein Dutzend Juden, die sich aber untereinander nicht alle kennen und die auch nicht unbedingt erkannt werden möchten. Die meisten von ihnen haben auch keinen oder nur wenig Kontakt zur Jüdischen Kultusgemeinde in Paderborn, die sie betreuen würde.
Die Lippstädter Grünen unterstützen das Anliegen von Prof. Jürgen Overhoff und dem Musiker und Kurator Dirk Raulf mit dem Projekt, das Gebäude der ehemaligen Synagoge an der Stiftsruine auch in diesem Jahr mit neuem Leben zu erfüllen. Und auch wir Grünen freuen uns darüber, dass Ende dieses Jahres endlich auch in Lippstadt die ersten Stolpersteine gelegt werden. Dazu arbeiten Schüler*innen des EG im Fach Geschichte u.a. die Biographien der Lippstädterinnen Dina und Luise Grüneberg heraus, die 1942 in Treblinka und Zamosc ermordet wurden, sowie von Familie Levy, deren beide Kinder Georg und Ursula Levy den Holocaust nur knapp überlebten und George Levy-Mueller heute mit 91 Jahren der letzte Überlebende aus seiner Familie ist. Er und seine Schwester Ursula überlebten bei niederländischen Nonnen, die sie versteckten.
„Angesichts der Tatsache, dass 76 Jahre nach Ende des Holocaust kaum noch Zeitzeugen leben, die über die Verbrechen dieser Zeit berichten können, haben wir genau diese Problematik in den Geschichtskursen der Q2 thematisiert. Wir wollen mit der Teilnahme am Stolperstein-Projekt einen Beitrag zur Aufrechterhaltung der Erinnerung an den Holocaust –über die letzten Zeitzeugen hinaus – leisten.
Für die Schüler*innen war die Konfrontation mit den Spuren jüdischen Lebens in Lippstadt, mit den Dokumenten der Verfolgung und Ermordung und – im Falle der Familie Levy – mit den Überlebenden Zeitzeugen zu sprechen, ein eindrückliches Erlebnis. Daran geknüpft ist die Hoffnung, dass sie im Hier und Jetzt dazu ermutigt werden gegen Rassismus und Antisemitismus Partei zu ergreifen“, weiß Beate Tietze-Feldkamp zu berichten, die mit ihrer Kollegin Regine Richert das Schulprojekt begleitet.
Eine Messlatte für eine offene und tolerante Gesellschaft ist die Existenz jüdischer Gemeinden in Deutschland. Vor einem Jahrzehnt galt die Bundesrepublik als Einwanderungsland für Juden. Heute wissen viele von ihnen nicht, ob sie nicht zur Zielscheibe von Nazis oder Islamisten werden.
„Ich höre erst auf zu singen, wenn mehr Menschen aktiv die Demokratie verteidigen“, hat Esther Bejarano einmal in Lippstadt gesagt. Die 96-Jährige hat den Holocaust überlebt, war im sogenannten Mädchenorchester von Auschwitz und engagiert sich seit den Siebzigern gegen Nazis. Bejarano reist durch die ganze Bundesrepublik, ist auch schon zweimal in der Jacobikirche gemeinsam mit der Rap-Crew „Microphone Mafia“ in der Jakobikirche aufgetreten und betont: „Die meisten von euch heute sind nicht Schuld an dem, was damals geschah, aber ihr macht euch schuldig, wenn ihr über diese Geschichte nichts wissen wollt.“ Menschliche Weltoffenheit ist nur zu erreichen, wenn man sich darüber nachhaltig Gedanken macht, was ihr entgegensteht. Und zu wissen: im anderen sehe ich mich auch immer selber.