Europäische Flüchtlingspolitik – Verrat an besten humanitären Traditionen

Hier ein Leserbrief als Antwort auf die Position eines Lippstädter Bürgers,  der deutsche und europäische humanitäre Verantwortung und praktische Hilfe für Geflüchtete entschieden ablehnt. Dieser Text, der auch unsere politische und moralische Einschätzung und Haltung widerspiegelt, ist vor dem verheerenden Brand des Lagers Moria auf der Griechischen Insel Lesbos im Patriot in Auszügen veröffentlicht worden. Hier der vollständige Text:

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Welche Worte rütteln noch auf und welche Bilder von Geflüchteten erzeugen noch Mitgefühl? Was rührt uns in den Wohnzimmern noch an, wo sich doch die Bilder von Schutzsuchenden an Europas Grenzen, auf Lampedusa und auf Lesbos ähneln und es inzwischen sogar ein Verbrechen sein soll, Schiffbrüchige vor dem Ertrinken zu retten? Herr D. aus Lippstadt, dem es in der Flüchtlingsfrage vor allem um die Sicherung unseres Wohlstands geht, wird sicherlich nicht einsehen, dass es auch unser Politik- und Lebensstil ist, der Flüchtlingsströme mit verursacht und längst allen humanitären Grundsätzen widerspricht. Im Elendslager von Moria, das Ministerpräsident Laschet in diesen Tagen besuchte, denken immer mehr elternlose Kinder an Suizid, Babys sterben an Unterernährung, hausen Menschen im Schlamm.

Als der zweijährige Alan Kurdi 2015 tot am Strand angeschwemmt wurde, war sein Bild in allen Medien. Und jetzt? Das Mittelmeer ist längst zu einem Massengrab geworden. Und im angesprochenen Leserbrief tauchen Flüchtlinge, die auf dem Weg nach Europa ertrinken, in Containerlastwagen ersticken oder sich in Abschiebeanstalten das Leben nehmen, nicht auf, sondern begegnen dem „Fluch der Gleichgültigkeit“, wie es Hannah Arendt ausdrücken würde.

Dabei trägt Europa erheblich dazu bei, jene Migranten zu generieren, die es an den Außengrenzen bekämpft – durch jahrzehntelange Unterstützung von Diktatoren vom Schlage eines Ben Alis, Mubaraks und Gaddafis, denen es sogar Waffen geliefert hat, mit denen diese ihre Völker niederhalten konnten; durch die europäische Handels-,  Agrar- und Fischereipolitik , die für uns sehr profitabel ist, Bauern und Fischern in Afrika aber ihrer Existenzgrundlagen raubt und gleichzeitig Europas „Entwicklungshilfepolitik“ konterkariert; und nicht zuletzt durch den Klimawandel, den wir durch unseren verschwenderischen Lebensstil und CO2-Ausstoß forcieren, dessen Folgen aber – Dürren und Wüstenbildung – Menschen in der Sahelzone zu tragen haben.

Es ist berechtigt, darauf hinzuweisen, dass die Integration von geflüchteten Menschen eine lange und anstrengende gesellschaftliche Aufgabe darstellt. Und es ist verständlich, dass vor allem einkommensschwache Menschen Angst haben, es wegen der Geflüchteten auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt noch schwerer zu haben. Aber warum meldet sich der Verfasser jetzt zu Wort, wo Lippstadt seit zwei Jahren so gut wie keine neuen Flüchtlinge zugewiesen bekommen hat, die Stadtverwaltung daran denkt, Wohnheime zu schließen, das Thema „Asyl“ nicht  mehr auf der Tagesordnung des zuständigen Fachausschusses steht und das Jobcenter mitteilt, dass  die Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt erfolgreich weitergeht (2018 waren es 462 und ein Jahr später 516)? Deshalb begrüße ich den Beschluss des Stadtrates, dem Aktionsbündnis „Seebrücke“ beizutreten und Kinder aus dem Elendslager Moria aufzunehmen, wie das auch über 130 Städte in Deutschland gerne tun würden.

Wir unterstellen Herrn D. nicht, dass er in nächster Zukunft  einen Schusswaffeneinsatz an Europas Grenzen fordert, wie das im Januar 2016 die AfD-Politikerin Beatrix von Storch und die Bundestagsabgeordnete Frauke Petry getan haben, wünsche mir aber, wir würden uns zukünftig in Europa wieder stärker an unsere besten humanitären Traditionen erinnern, nämlich an unser Bekenntnis zur Universalität von Menschenwürde und Menschenrechten, an Freiheit und Gleichheit aller Menschen und an globale Solidarität.
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Hermann-Josef Skutnik und Heinz Gesterkamp